Tod einer alten Dame



Ihren Vater hatte sie nie gekannt, der starb gleich zu Anfang des ersten Weltkrieges, als sie gerade zwei Jahre alt war. Sie hatte eine ein Jahr jüngere Schwester, die durch eine Krankheit aber fast taub geworden war. Als die Mutter der beiden Mädchen schnell wieder heiratete, einen ungeliebten, aber zur Versorgung notwendigen, Mann, lernte das kleine Mädchen schnell, wie grausam Männer sein können. Ihr Stiefvater war Erzieher in einem Heim für gestrauchelte Jugendliche und erzog seine Stieftöchter zuhause auf die gleiche Weise. Es wurde immer geprügelt, mit der Hand, mit dem Ledergürtel und mit Stöcken. Gründe gab es genug, brauchte es aber nicht zu geben, um zuzuschlagen. Der Lieblingssatz ihres Stiefvaters war, „wer liest, ist tot“. Statt zu lesen, sollte sie ihrer Mutter bei der Haus-/Gartenarbeit helfen. Das kleine Mädchen las aber gern. Die Geschichten lieβen sie ihr eigenes trauriges Leben vergessen. Wenn ihr Stiefvater sie beim Lesen erwischte, gab es Prügel. Das Mädchen war wiβbegierig und sehr gut in der Schule. Aber als ihre schwerhörige Schwester aus der Schule genommen wurde, weil sie nicht mitkam, muβte das Mädchen auch die Schule verlassen, obwohl es am liebsten noch viel mehr gelernt hätte. Stattdessen wurde es in den Nachbarsort als Dienstmädchen geschickt.

Zum erstenmal verliebte es sich, aber der junge Mann war verheiratet. Zwar wohnte seine Frau weit weg in einer anderen Stadt, aber Scheidung kam damals nicht infrage, ‚wegen der Leute’. Da die Liebe zwischen dem Mädchen und dem verheirateten Mann aber sehr groβ war und beide so nicht weiterleben wollten und konnten, beschlossen sie, zu sterben. Sie setzten sich in einen Zug und fuhren irgendwohin, weit weg, wo beide noch nie gewesen waren. Dort verbrachten sie die Nacht in einem Hotel. Vor der Reise hatte sich der Mann eine Pistole besorgt. Als dem Mädchen so richtig bewusst wurde, daβ es ihm wirklich ernst war mit dem Sterben wollen, bekam es Angst. Eine ganze Nacht lang redete es auf den Geliebten ein, um ihn umzustimmen. Erschöpft schlief das Mädchen schlieβlich an der Seite des Geliebten ein, in der Hoffnung, ihm Mut zum Weiterleben gemacht zu haben. Es erwachte etwas später durch einen ohrenbetäubenden Knall. Im Morgengrauen hatte sich ihr Geliebter im Zimmer erschossen.



Zu dem Schock des Erlebten und der Trauer über den Verlust des Geliebten kam jetzt die Schande, denn im Dorf wurde sie belächelt und geächtet. Ihre Mutter und ihr Stiefvater schlossen sie im Haus ein und bewachten jeden ihrer Schritte, weil befürchtet wurde, daβ sich sich umbringen könnte.



Nach ein paar Jahren ging es dem Mädchen seelisch wieder so gut, daβ es sich aufs Neue verliebte. Er war Förster und schien die Liebe zu erwidern. Doch leider hatte dieser Förster eine Mutter, die ihm verbot, dieses Mädchen zu heiraten, weil ja jeder im Dorf wuβte, ‚was sie für eine war’. Er wagte es nicht, seiner Mutter zu widersprechen und so wurde dem Mädchen zum zweitenmal das Herz gebrochen.

Es verlieβ das Dorf und den Geliebten, der zwar weiter seine Liebe beteuerte, aber nicht bereit war, sich gegen seine Mutter zu stellen.

Das Mädchen ging ganz weit fort, nämlich in die Groβstadt Berlin. Dort lernte sie Stenographie und Schreibmaschine und arbeitete bald am Rundfunk. Es gab dort auch einen tollen Mann, der so ganz anders war, als alle Männer, die das Mädchen bisher kennengelernt hatte. Er brachte es zum Lachen, spielte Akkordeon und war sogar Pilot von kleinen Flugzeugen, auβerdem besaβ er auch ein hübsches Segelboot. Das Mädchen aber dachte weiter an den Förster, der sogar ein- oder zweimal nach Berlin gereist war, um bei dem Mädchen zu sein. Der schwor zwar seine Liebe, war aber immer noch nicht bereit, gegen seine Mutter anzugehen. Das Mädchen war inzwischen eine junge Frau von dreiundzwanzig Jahren und fand, daβ es an der Zeit war, zu heiraten, allein schon, um den Leuten im Dorf als ‚anständige Frau’ wieder unter die Augen treten zu können. Als der Hobbypilot, der ja als Nachrichtensprecher beim Rundfunk angestellt war, über dem Haus der jungen Frau in seinem Flugzeug romantische Herzen malte, gab die junge Frau seinem Drängen nach. Sie heirateten. Die Flitterwochen verbrachte das frischgebackene Ehepaar auf dem Segelboot, denn für eine Reise reichte das Geld nicht. Die junge Ehefrau hoffte, sich jetzt in den Flitterwochen auch in ihren Mann verlieben zu können, denn bis dahin mochte sie ihn zwar, hätte ihn aber sofort für den Förster eingetauscht.

Doch bereits in den ersten Tagen der Flitterwochen erschien der Ehemann auf dem Boot mit einer anderen Frau im Arm. Auf die erstaunt-/entsetzte Frage seiner Ehefrau meinte er nur, daβ sie sich nicht länger zu verstellen bräuchte – er hätte doch von Anfang an gewuβt, daβ sie sowohl Frauen als auch Männer liebte... das hätte er doch an ihrem Aussehen und Auftreten gemerkt... und diese Frau, die er mitbrachte, hätte absolut nichts gegen einen flotten Dreier... Es muβ erzählt werden, daβ die junge Ehefrau ein sehr burschikoses Auftreten hatte und am liebsten lange Hosen trug, was damals bei jungen Frauen noch nicht üblich war. Auβerdem trug sie auch einen ‚Bubikopf’, wie kurze Haare damals hieβen, was ebenfalls überhaupt nicht üblich war.



Nie hat die junge Ehefrau später jemandem erzählt, was in jener Nacht geschah, aber es war offensichtlich, daβ ihre Ehe nur unglücklich werden konnte. Eine einzige Frau war ihrem Ehemann nicht genug, er muβte immer mehrere haben. Die junge Ehefrau störte es nach auβen hin nicht. Sie lieβ es zu, daβ ihr Mann andere Frauen hatte (solange ‚die Leute’ nichts merkten), und gab nie zu erkennen, was sie wirklich dabei fühlte. Später bekam sie im Abstand von vier Jahren zwei Töchter und sah ihren Mann immer seltener. Er fuhr inzwischen als Funkoffizier zur See und kam höchstens einmal im Jahr nachhause. Das Geld war weiterhin sehr knapp und zu essen gab die junge Frau ihren Töchtern das, was der groβe Garten an Gemüse und Obst hervorbrachte. Höchstens einmal die Woche gab es Fleisch und ihre älteste Tochter zum Beispiel aβ die erste Banane, als sie schon fünf Jahre alt war.

Die junge Frau erzog ihre Töchter auf dieselbe Weise, wie sie erzogen worden war, mit Prügeln. Sie wuβte es nicht anders. Sie zeigte ihren Töchtern gegenüber kaum Gefühle, nie gab es Kuscheln oder sogar einen Kuβ. Die beiden Töchter waren von kleinauf daran gewöhnt, daβ ihr Vater sie an den Wochenenden, wenn er zuhause war (ab und zu arbeitete er ‚an Land’ bei verschiedenen Radiosendern), zu unterschiedlichen ‚Tanten’ mitnahm. Sie fragten auch nicht, was das eigentlich für Tanten waren... es war eben so.

Auch als die beiden Mädchen älter wurden, hörte ihre Mutter nicht auf, sie zu prügeln. Es reichte, ihr zu widersprechen, oder ein nicht so gutes Zeugnis nachhause zu bringen... der Teppichklopfer stand immer bereit.

Die älteste Tochter war es schlieβlich leid, sich prügeln zu lassen und ging als Aupair-girl ins Ausland, gleich nachdem sie die Schule beendet hatte.

Die jüngere Tochter blieb bei der Mutter, besonders auch, weil sich der Vater schlieβlich doch für eine andere Frau entschieden hatte und sich endgültig von seiner Familie trennte.

Es vergingen viele eintönige Jahre. Die Frau wurde älter und schlieβlich war sie ganz alt. Nachdem sie in Rente gegangen war (sie hatte mit über 40 einen Neustart als Kontoristin gemacht), bestand der Sinn ihres Lebens nur noch im Saubermachen. Als ihre jüngere Tochter geheiratet hatte und weggezogen war, zog sie ihr hinterher und machte auch bei ihr sauber. Wenn ihre Tochter sich dagegen wehrte, verfiel sie in Depressionen. Um ihren Depressionen zu entkommen und um die Zeit totzuschlagen, wanderte sie schlieβlich jeden Tag viele Kilometer durch die flache Landschaft Schleswig-Holsteins, viele Stunden, jeden Tag. Sie hatte keine Freundinnen oder auch nur Bekannte, denn jede Annäherung von Leuten machte sie miβtrauisch und sie verschloβ sich.

Wenn sie nach ihren langen Märschen durch die einsame Gegend bei Eintritt der Dunkelheit wieder zuhause ankam, war auch die Depression wieder da. Bis sie früh ins Bett ging, versuchte sie sich damit abzulenken, dort zu putzen, wo sich seit dem Morgen vielleicht etwas Staub niedergelassen hatte, und danach machte sie das Licht im Zimmer aus, setzte sich still in einen Sessel und dachte nach. Sie dachte wohl an ihre ältere Tochter, die schon seit Ewigkeiten in einem anderen Land lebte und an ihre jüngere Tochter, die zwar gleich nebenan lebte, aber trotzdem unerreichbar für sie war, denn inzwischen hatte ihre jüngste Tochter gelernt, sich nicht alles gefallen zu lassen und ihrer Mutter verboten, sich in ihr Leben einzumischen.



Jeder Tag bewies dieser Frau, daβ sie immer älter wurde und nicht mehr so gelenkig war wie früher, daβ ihre Augen so schlecht wurden, daβ sie nicht einmal mehr lesen konnte, und daβ es ihr aufgrund des Rheumas jeden Tag schwerer fiel, gründlich sauberzumachen, und vor allem, daβ sie eigentlich niemanden mehr hatte, für den sie sorgen konnte, nachdem eine Katze, die ihr irgendwann einmal zugelaufen war (und die sie liebevoller behandelte, als jemals ihre Töchter), schlieβlich auch wieder verschwand.



An einem trüben Novembernachmittag 1992 nahm die alte Frau einen Strick und erhängte sich. Sie war neunundsiebzig Jahre alt. Sie hinterlieβ keinen Abschiedsbrief, nur betroffene Leere.



Sie war meine Mutter.



Nachtrag: Immer noch fällt es mir sehr schwer, über das Leben und besonders den Tod meiner Mutter zu berichten. Ich weiβ nicht, ob ich ihr jemals verzeihen kann, daβ sie meine Schwester und mich auf diese Weise verlassen hat. Selbstmord eines Angehörigen ist sehr sehr schrecklich, man fragt sich, ob man es nicht vielleicht hätte verhindern können und wird den Rest seines Lebens mit einem Gefühl der Schuld leben müssen. Jedenfalls geht es mir so.